Diese Aussage ist falsch. Nicht jeder, der berufsbedingt viel sitzen muss, entwickelt automatisch Rückenschmerzen. Es existieren mehrere wissenschaftliche Übersichtsarbeiten, die belegen, dass es keinen statistischen Zusammenhang zwischen Sitzen und Rückenschmerzen gibt (Hartvigsen, Leboeuf-Yde, Lings, & Corder, 2000; Roffey, Wai, Bishop, Kwon, & Dagenais, 2010). Allerdings ist es empfehlenswert vor und nach längeren sitzenden Tätigkeiten für einen körperlichen Ausgleich zu sorgen.
Gerades Sitzen schützt vor Rückenschmerzen
Biomechanisches „gerades“ Sitzen kann die passiven Strukturen (Bänder, Gelenkskapseln, Bandscheiben) der Wirbelsäule entlasten und Scherkräfte reduzieren. Allerdings kann auch verkrampft „gerades“ Sitzen zu vermehrter Beanspruchung der Muskulatur führen, was wiederum zu einer Minderversorgung der Muskelzellen mit Sauerstoff und Nährstoffen führt. Dies hat zur Folge, dass die betroffenen Muskeln Schmerzsignale ans Gehirn senden. Wesentlich ist, die Sitzposition regelmäßig zu verändern und mit entsprechenden Mobilisationsübungen (siehe im nächsten Blogartikel) prophylaktisch gegen mögliche Rückenbeschwerden zu arbeiten (Bontrup et al., 2019; Ernst, 1992)
Gegen Rückenschmerzen hilft Ruhe und Schonung
Viele Jahre glaubte man, dass Ruhe und Schonung die Therapie der Wahl bei Rückenschmerzen seien. Diese Empfehlung ist jedoch stark veraltet. Aktuell zeigt die Studienlage, dass körperliche Aktivität und Bewegung die Schmerzstärke reduziert und damit die Lebensqualität verbessern kann. Hier können unter anderem PhysiotherapeutInnen mit ihrem medizinischem Know-How und ihrer Expertise in Sachen Training unterstützend dazu beitragen Rückenschmerzen zu lindern (Geneen et al., 2017; Koes et al., 2010)
Einmal Rückenschmerz, immer Rückenschmerz
„Ach Rückenschmerzen habe ich schon ewig“. Oft hört man diesen Satz in der physiotherapeutischen Praxis. Viele sind der Meinung: „Einmal Rückenschmerz, immer Rückenschmerz“, oder „Wenn die Bandscheibe mal draußen ist, muss ich dauerhaft unter Rückenschmerzen leiden“. Erstens: Bandscheiben können sich wieder regenerieren und ausheilen. Zweitens kann man mithilfe verschiedener Maßnahmen Rückenschmerzen dauerhaft lindern bzw. beseitigen. Hierzu zählen unter anderem physiotherapeutische, osteopathische oder andere medizinische Maßnahmen, aber auch Strategien zur Stressbewältigung oder Arbeitsplatzergonomieschulungen. Chronische Rückenschmerzen stellen meist ein multimodales Beschwerdebild dar, welches auch mehrere Ursachen haben kann (Stress, Ernährung, Verhalten, Bewegungsmangel, uvm.). Deswegen bringt oft eine interprofessionelle Zusammenarbeit mehrerer Berufsgruppen (z.B. Physiotherapie, Diätologie, Psychologie) den entsprechenden Erfolg (Airaksinen et al., 2006).
Bei Rückenschmerzen ist immer ein Röntgen oder MRT erforderlich
Das ist teilweise korrekt. Hat man den Verdacht auf eine ernste Pathologie (Knochentumor, Fraktur, Muskellähmungen usw.) ist ein Röntgen bzw. MRT Goldstandard in der Diagnostik und medizinisch unumgänglich.
Allerdings ist die Bilddiagnostik bei neu aufgetretenen nichtspezifischen Rückenschmerzen nur selten hilfreich und kann sogar negative Folgen haben (Schiltenwolf & Schwarze, 2020).
Seit der Einführung von Magnetresonanztomographien sind die Kosten des Gesundheitssystems massiv gestiegen. Grund dafür dürfte unter anderem der Nocebo-Effekt sein, der besagt, dass das Wissen um eine etwaige Pathologie im MRT schmerzauslösend- bzw. verstärkend oder verursachend sein kann (Emery, Shojania, Forster, Mojaverian, & Feasby, 2013).
Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass es sehr viele asymptomatische Personen mit Bandscheibenvorfällen oder anderen „Wirbelsäulenschädigungen“ in der Bevölkerung gibt. In einer japanischen Studie mit 1211 gesunden ProbandInnen wiesen 87,6% einen Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule auf. Sogar bei 75,65% der Menschen im Alter von 20-30 Jahren fanden die Autoren einen Bandscheibenvorfall (Nakashima et al., 2015). Blickt man auf die Lendenwirbelsäule kommen Boden et al. auf ähnliche Resultate. Bei asymptomatischen ProbandInnen im Alter von 60-80 Jahren hatten 79% einen Bandscheibenvorfall (Boden, Davis, Dina, Patronas, & Wiesel, 2014).
Bei Rückenschmerzen muss man natürlich die Rückenmuskulatur kräftigen
Jein. Zwar spielt die tiefe Rückenmuskulatur eine bedeutende Rolle zur Stabilisierung der Wirbelsäule. Allerdings nicht ausschließlich. Auch die Rumpfmuskulatur, das Zwerchfell und die Beckenbodenmuskulatur sind für die Stabilisierung der Wirbelsäule höchst relevant (Arab, Behbahani, Lorestani, & Azari, 2010; Chang, Lin, & Lai, 2015). Oft wird vergessen, diese Muskeln mit zu trainieren, es kommt zu muskulären Dysbalancen und die Rückenschmerzen bleiben aufrecht. Durch ein individuell angepasstes Trainigsprogramm für die oben angeführten Muskelgruppen können Rückenschmerzen gelindert werden.
Bei Rückenschmerzen ist die Rückenmuskulatur verkürzt
Häufig kommt der gut gemeinte Ratschlag: „Um Schmerzen in der Wirbelsäule zu beseitigen, musst du deine Rücken- bzw. Nackenmuskeln dehnen.“ Das ist im Grunde ein Mythos. Zwar können statische Dehnungsübungen lindernd wirken, jedoch helfen gelenksmobilisierende dynamische Dehnungsübungen deutlich besser (Phadke, Bedekar, Shyam, & Sancheti, 2016). Häufig führen zum Beispiel versteckte Schulter- oder Hüftgelenkseinschränkungen in weiterer Folge zu Schmerzen in der Hals-, Brust- bzw. Lendenwirbelsäule, da der Körper die fehlende Mobilität nicht mehr ausreichend kompensieren kann. Aus diesem Grund untersuchen PhysiotherapeutInnen und OsteopathInnen immer auch angrenzende Gelenke, um Dysfunktionen aufzuspüren und diese individuell und gezielt mithilfe von Gelenksmobilisationen zu beseitigen.
Bei einem Bandscheibenvorfall springt die Bandscheibe raus
Das ist aus anatomischer Sicht absoluter Nonsens. Die Bandscheibe besteht aus einem flüssigen, gallertartigen Kern und einem äußeren Ring aus kollagenen, stabilen Fasern. Werden die äußeren Fasern verletzt kann diese gallertartige Flüssigkeit austreten. Dies nennt man einen Bandscheibenvorfall. Komprimiert das zwischen den Kollagenfasern ausgetretene Material nun das Nervengewebe entstehen die typischen Symptome eines Bandscheibenvorfalls wie Kraftverlust, Missempfindungen oder ausstrahlende Schmerzen.
Ein Bandscheibenvorfall bleibt nicht ein Leben lang bestehen. Der eigene Körper kann die ausgetretene Flüssigkeit resorbieren. Dadurch lindern sich dann auch wieder die Symptome.
„Sie können (raus)springen, aber nicht Ihre Bandscheibe“
Rückenschmerzen entstehen immer nur im Rücken bzw. sind meist die Bandscheiben schuld.
Das stimmt so nicht. Es gibt zwar viele Strukturen (Bänder, Gelenkskapsel, Muskeln) die einen Schmerz im Rücken auslösen können. Allerdings können auch die Bauch- und Beckenorgane Schmerzen in den Rücken projizieren. Organe (wie zum Beispiel die Leber oder die Nieren) haben zwar keine direkte Schmerzempfindung, sie sind jedoch von einer Kapsel umhüllt bzw. an Faszien fixiert, die bei einer Reizung Schmerzen in den Rücken leiten können (Panagopoulos, Hancock, & Ferreira, 2013). Zum Beispiel kann ein Gallen- oder Nierenstein in den Rücken ausstrahlen.
Aus osteopathischer Sicht kann zum Beispiel ein Supinationstrauma (Umknöcheln) zu Beschwerden im Rücken führen, da das Gangbild durch die Verletzung verändert ist. Wird das Sprunggelenk behandelt, können die Schmerzen verschwinden.
Auch unsere Hirnhaut, welche die gesamten Nerven umhüllt, kann bei Verklebungen Schmerzen im Rücken verursachen. Diese Haut kann nach einem Sturz auf das Gesäß, einem Schlag auf den Kopf oder nach einem Kreuzstich (Periduralanästhesie) irritiert sein und ebenfalls Schmerzen im Rücken auslösen.
Interesting fact: Die Bandscheibe selbst hat keine Nervenfasern, die den Schmerz verursachen können. Nach einem Bandscheibenvorfall kommt es zu einer Gefäßeinsprossung ins geschädigte Areal, um das Wundgebiet mit Blut zu versorgen. Mit den Gefäßen gelangen auch Nerven in und um die Bandscheiben, die eventuell schmerzauslösend sein können.
Falsches Bücken verursacht Rückenschmerzen
„Bück dich richtig, sonst bekommst du Rückenschmerzen“. Nahezu jeder wird einmal mit diesem Satz konfrontiert. Doch das ist im Grunde ein Mythos. Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass Rückenschmerzen nicht alleine aus „falschem“ Bücken resultieren (Wai, Roffey, Bishop, Kwon, & Dagenais, 2010). Zwar sollte man beim Heben schwerer Lasten auf eine dem zu hebenden Gewicht und der individuellen Körperstatur angepasste Hebetechnik anwenden, doch die Aussage, dass falsches Bücken auslösend für Rückenschmerzen ist wird von der Wissenschaft nicht gestützt.
https://www.physio-freudensprung.at/rueckenschmerz-mythen-teil-1-3/
https://www.physio-freudensprung.at/rueckenschmerz-mythen-teil-2-3/
https://www.physio-freudensprung.at/rueckenschmerz-mythen-teil-3-3/
Litertaturverzeichnis
Airaksinen, O., Brox, J. I., Cedraschi, C., Hildebrandt, J., Klaber-Moffett, J., Kovacs, F., … Zanoli, G. (2006). European guidelines for the management of chronic nonspecific low back pain. European Spine Journal, 15(Suppl 2), s192–s300. doi.org/10.1007/s00586-006-1072-1
Arab, A. M., Behbahani, R. B., Lorestani, L., & Azari, A. (2010). Assessment of pelvic floor muscle function in women with and without low back pain using transabdominal ultrasound. Manual Therapy, 15(3), 235–239. doi.org/10.1016/j.math.2009.12.005
Boden, S. D., Davis, D. O., Dina, T. S., Patronas, N. J., & Wiesel, S. W. (2014). Abnormal Magnetic-Resonance Scans of the Lumbar Spine in Asymptomatic Subjects. A Prospective Investigation. Classic Papers in Orthopaedics, 245–247. doi.org/10.1007/978-1-4471-5451-8_60
Bontrup, C., Taylor, W. R., Fliesser, M., Visscher, R., Green, T., Wippert, P.-M., & Zemp, R. (2019). Low back pain and its relationship with sitting behaviour among sedentary office workers. Applied Ergonomics, 81, 102894. doi.org/10.1016/j.apergo.2019.102894
Chang, W.-D., Lin, H.-Y., & Lai, P.-T. (2015). Core strength training for patients with chronic low back pain. Journal of Physical Therapy Science, 27(3), 619–622. doi.org/10.1589/jpts.27.619
Emery, D. J., Shojania, K. G., Forster, A. J., Mojaverian, N., & Feasby, T. E. (2013). Overuse of Magnetic Resonance Imaging. JAMA Internal Medicine, 173(9), 823–825. doi.org/10.1001/jamainternmed.2013.3804
Ernst, E. (1992). Medically correct sitting, does it exist? Wiener Medizinische Wochenschrift, 142(22), 513–516.
Geneen, L. J., Moore, R. A., Clarke, C., Martin, D., Colvin, L. A., & Smith, B. H. (2017). Physical activity and exercise for chronic pain in adults: An overview of Cochrane Reviews. Cochrane Database of Systematic Reviews, (4). doi.org/10.1002/14651858.CD011279.pub3
Hartvigsen, J., Leboeuf-Yde, C., Lings, S., & Corder, E. H. (2000). Review Article: Is sitting-while-at-work associated with low back pain? A systematic, critical literature review. Scandinavian Journal of Public Health, 28(3), 230–239. doi.org/10.1177/14034948000280030201
Koes, B. W., van Tulder, M., Lin, C.-W. C., Macedo, L. G., McAuley, J., & Maher, C. (2010). An updated overview of clinical guidelines for the management of non-specific low back pain in primary care. European Spine Journal, 19(12), 2075–2094. doi.org/10.1007/s00586-010-1502-y
Nakashima, H., Yukawa, Y., Suda, K., Yamagata, M., Ueta, T., & Kato, F. (2015). Abnormal Findings on Magnetic Resonance Images of the Cervical Spines in 1211 Asymptomatic Subjects. Spine, 40(6), 392–398. doi.org/10.1097/BRS.0000000000000775
Panagopoulos, J., Hancock, M., & Ferreira, P. (2013). Does the addition of visceral manipulation improve outcomes for patients with low back pain? Rationale and study protocol. Journal of Bodywork and Movement Therapies, 17(3), 339–343. doi.org/10.1016/j.jbmt.2012.12.004
Phadke, A., Bedekar, N., Shyam, A., & Sancheti, P. (2016). Effect of muscle energy technique and static stretching on pain and functional disability in patients with mechanical neck pain: A randomized controlled trial. Hong Kong Physiotherapy Journal, 35, 5–11. doi.org/10.1016/j.hkpj.2015.12.002
Roffey, D. M., Wai, E. K., Bishop, P., Kwon, B. K., & Dagenais, S. (2010). Causal assessment of occupational sitting and low back pain: Results of a systematic review. The Spine Journal: Official Journal of the North American Spine Society, 10(3), 252–261. doi.org/10.1016/j.spinee.2009.12.005
Schiltenwolf, M., & Schwarze, M. (2020). Diagnostik und Therapie von Rückenschmerzen: Was ist empfehlenswert? Was sollte unterbleiben und warum wird es dennoch gemacht? Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz, 63(5), 527–534. doi.org/10.1007/s00103-020-03121-y
Wai, E. K., Roffey, D. M., Bishop, P., Kwon, B. K., & Dagenais, S. (2010). Causal assessment of occupational bending or twisting and low back pain: Results of a systematic review. The Spine Journal, 10(1), 76–88. doi.org/10.1016/j.spinee.2009.06.005
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